Rechtsstreit um frei zugängliche harmonisierte Normen

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Sollten harmonisierte technische Normen frei zugänglich sein, da sie EU-Recht entsprechen? Eine entsprechende Klage zweier gemeinnütziger Organisationen wurde im Juni 2023 abgewiesen. Im Anfechtungsverfahren dieses Urteils hat nun die Generalanwältin Laila Medina in ihrem Schlussantrag eine erneute Prüfung der Klage gefordert.

Grund hinter dem Rechtsstreit

Den Anfang nahm die Debatte über frei zugängliche harmonisierte Normen 2019, als der Europäische Gerichtshof (EuGH) in einer Urteilsverkündung harmonisierte Europäische Normen (HTN) beiläufig „Teil des Unionsrechts“ bezeichnete. Mögliche Konsequenzen aus dieser Einordnung wurden jedoch nicht beschrieben.

 Im Zuge der Aussage forderten unter anderem die beiden gemeinnützigen Organisationen Public.Resource.Org Inc. und Right to Know CLG bei der Europäischen Kommission kostenlosen Zugang zu verschiedenen harmonisierten Normen, z. B. zur Spielzeugsicherheit. Dieser wurde abgelehnt, woraufhin die Organisationen Klage beim EuGH einreichten. Sie beriefen sich dabei auf Artikel 1 und 2 der Verordnung 1049/2001 (EG), wonach ein „größtmöglicher Zugang zu Dokumenten der Unionsorgane“ im öffentlichen Interesse liege. Da HTN im EU-Amtsblatt gelistet würden, wären sie als „Rechtstexte“ zu werten und müssten daher der Allgemeinheit frei und kostenlos zur Verfügung gestellt und vom Urheberrecht ausgeschlossen werden.

Die Klage der beiden Organisationen wurde im Juli 2021 in allen Punkten abgewiesen. Der EuGH begründete seine Entscheidungen damit, dass der Zugang zu Dokumenten gemäß 1049/201 (EG) eingeschränkt werden kann, wenn dadurch geistiges Eigentum von natürlichen oder juristischen Personen beeinträchtigt wird. Dieser Fall sei gegeben, da die drei Normungsorganisationen CEN, CENELEC und ETSI oder seine nationalen Mitglieder mit der Erstellung und Veröffentlichung von harmonisierten Normen ein geschäftliches Interesse verfolgen. Darüber hinaus sah das Gericht den Punkt des öffentlichen Interesses nicht als erfüllt an.

Normen entstehen in enger Zusammenarbeit verschiedener Institutionen und Fachleute.

Außerdem sind HTN nicht gesetzlich verpflichtend, sondern stellen lediglich eine technische Spezifikation dar. Zwar ist die EU-Kommission an der Ausarbeitung von HTN beteiligt, im Rahmen der Normenverordnung (EU) 1025/2012 beschränkten sich die Aufgaben jedoch darauf, die rechtliche Übereinstimmung mit der jeweiligen Verordnung oder Richtlinie sowie den Harmonisierungsrechtsakt auf Vollständigkeit und Folgerichtigkeit zu überprüfen. Der eigentliche Normungsprozess liegt in der Hand der Normungsorganisationen, weshalb die Normen deren geistiges Eigentum und kein EU-Recht darstellen.

Anfechtung des Urteils durch die Generalanwältin

Die beiden Organisationen fochten das Urteil an. In diesem Rahmen forderte die Generalanwältin Laila Medina in ihrem Schlussantrag am 22. Juni 2023 eine Aufhebung des Urteils, da HTN wegen ihrer besonderen Rechtsnatur sehr wohl als unionsrechtliche Rechtsakte zu werten seien und somit frei und kostenlos zugänglich sein müssten. Ihre Begründung stütze sich auf folgende Punkte:

  1. Laut der Generalanwältin hätte der EuGH bereits anerkannt, dass HTN Rechtswirkungen hätten, auch wenn sie auf den Punkt nicht genau eingegangen wären.
  2. Durch die leitende Rolle der EU-Kommission am Normungsprozess ist sie auch für die Annahme von Normen verantwortlich und die Veröffentlichung im Amtsblatt würde die HTN zu einem Rechtsakt machen.
  3. Die Verwendung von HTN in der Produktion zieht eine Konformitätsvermutung nach sich, deren wesentliche Anforderungen sich aus dem Unionsrecht ableiten. Im Streitfall hätte die Bezugnahme auf eine HTN zudem unmittelbar Auswirkung auf die Beweislast. Außerdem müssten die EU-Mitgliedsstaaten neue HTN als nationale Norm übernehmen und entgegenstehende Normen innerhalb von sechs Monaten zurückziehen. HTN hätten daher dieselbe Rechtswirkung wie verbindliche Vorschriften.
  4. HTN spielen eine unverzichtbare Rolle bei der Umsetzung des abgeleiteten Unionsrechts und sind damit nicht urheberrechtlich schutzfähig. Selbst wenn dies der Fall wäre, hätte der freie Zugang zum Recht Vorrang vor dem Schutz des Urheberrechts.

Der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit verlangt, dass alle natürlichen und juristischen Personen in der EU freien Zugang zum Unionsrecht haben. Laut der Generalanwältin dürfe daher keinem EU-Bürger der Inhalt von HTN vorenthalten werden, wenn dieser den Bürger unmittelbar oder mittelbar betreffen könnte. In Folge des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit muss ein freier und kostenloser Zugang zu HTN gewährt werden. Daher sollte der EuGH das ursprüngliche Urteil aufheben und den ergänzenden Beschluss der EU-Kommission, der den Zugang zu den angeforderten HTN verweigert, für nichtig erklären.

Update: Urteilsverkündung am 05. März 2024

Mögliche Folgen des kostenfreien Zugangs

Natinale und Internationale Normungsorganisationen befürchten massive, wirtschaftliche Auswirkung durch kostenfreie harmoniserte Normen.

Normungsorganisationen wie DIN und DKE befürchten, dass die Schlussanträge der Generalanwältin richtungsweisend für das endgültige Urteil sein könnten, ohne dass die direkten Folgen für das EU-Wirtschaftssystem nicht ausreichend berücksichtigt werden.

An der Erarbeitung der Europäischen Normen sind Expertinnen und Experten aus Wirtschaft, Wissenschaft, öffentlicher Hand und Zivilgesellschaft beteiligt. Diese werden von den nationalen Normungsorganisationen (wie DIN und DKE) in die Ausschüsse von Normungsorganisationen CEN, CENELEC und ETSI entsendet. Nur so kann die notwendige Expertise durch sämtliche Stakeholder in den Prozess einfließen. Das Vertrauen in und die Akzeptanz von Normen in Wirtschaft und Gesellschaft beruht auf dieser vielseitigen Einbindung von Expertenwissen.

Der Verkauf von Normen finanziert direkt die Arbeit der Fachleute. Die Kosten werden auf die Anwender der Normen verteilt. Könnten Normungsorganisationen sich nicht mehr privatwirtschaftlich finanzieren, könnte auch die nötige Expertise im Erarbeitungsprozess und die Einbindung aller Stakeholder nicht mehr sichergestellt werden.

Darüber hinaus wäre die Verzahnung mit internationaler Normung erschwert. Oft übernahmen europäische Normungsorganisationen ISO- und IEC-Normen, um eine Anschlussfähigkeit der EN-Normen zu garantieren und den weltweiten Marktzugang zu erleichtern. ISO- und IEC-Normen wären jedoch weiterhin lizenzrechtliche Dokumente. Es müsste geregelt werden, ob und wie diese in das EU-Normungssystem übernommen werden können. Im schlimmsten Fall wäre eine Isolierung des EU-Wirtschaftraums die Folge.

Gleichzeitig sehen DIN und DKE die Neutralität der Normung gefährdet. Im bisherigen Prozess werden Normen von allen Stakeholdern unabhängig von privaten, kommerziellen oder politischen Interessen entwickelt. Eine stärkere Rolle der EU-Kommission in der Normerarbeitung würde das Interessengleichgewicht verschieben.

Der Vorschlag der Generalanwältin hat selbst keine rechtliche Bindung, sondern dient lediglich bei der Entscheidungsfindung des EuGHs. Das endgültige Urteil werden die Richterinnen und Richter erst nach ausführlicher Prüfung und Beratung verkünden.

 

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Links und Quellen

Bmwk.de: Rechtsgutachten zum europäischen System der harmonisierten Normen: https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Downloads/P-R/rechtsgutachten-europaeisches-system-harmonisierter-normen.pdf?__blob=publicationFile&v=4, 05.03.2024

Curia.europa.eu: PRESSEMITTEILUNG Nr. 110/23: https://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2023-06/cp230110de.pdf, 05.03.2024

DKE.de: Zukunftsfähigkeit der europäischen Wirtschaft wäre gefährdet: https://www.dke.de/de/normen-standards/politik-recht-strategie/news/harmonisierte-europaeische-normen, 05.03.2024

Ibf-solutions.com: Gerichtsurteil: Kostenloser Zugang zu harmonisierten Normen: https://www.ibf-solutions.com/fachbeitraege/urteil-kostenloser-zugang-zu-harmonisierten-normen, 05.03.2025