EuGH entscheidet über harmonisierte Normen

Im Rechtsstreit über den freien Zugang zu harmonisierten Normen im Bereich der Sicherheit von Spielzeugwaren hat der Europäische Gerichtshof ein Urteil gesprochen. Am 05. März 2024 wurde nun verkündet, dass der freie Zugang zu den entsprechenden Normen nach EU-Recht zulässig sei. Auch wenn der Rechtsstreit um wenige, konkrete harmonisierte Normen geführt wurde, erwarten Fachleute weitreichende Folgen für den europäischen und internationalen Normungsprozess.

Rechtsstreit über harmonisierte technische Normen

Geführt hatten den Rechtsstreit die gemeinnützigen Organisationen Public.Resource.Org und Right to Know, die sich für frei zugängliche Rechtstexte einsetzen. In 2018 forderte Carl Malamud, Gründer von Public.Resource.Org, freien Zugang zu Normen zu chemischem Spielzeug und chemischen Experimentierkästen, was von der EU-Kommission abgelehnt wurde. Die Organisationen fochten den Beschluss vor dem EuGH an, der die Klage jedoch abwies. Der Gerichtshof begründete seine Entscheidung damit, dass der freie Zugang zu harmonisierten Normen nach 1049/2001 (EG) beschränkt werden kann, wenn geschäftliche Interessen das öffentliche Interesse überwiegen. Außerdem seien harmonisierte technische Normen (HTN) nicht gesetzlich verpflichtend, sondern lediglich technische Spezifikationen.

Dieses Urteil wurde ebenfalls von den Organisationen angefochten. Die Generalanwältin Laila Medina legte in ihrem Schlussantrag am 22. Juni 2023 in mehreren Punkten vor, weshalb HTN als EU-Rechtsakte gewertet werden und frei zugänglich sein müssten. Infolge dessen erklärte der EuGH den Beschluss der EU-Kommission mit dem Urteil vom 05. März für nichtig. Demnach wäre der freie Zugang zu den bestrittenen Normen zulässig.

Die Begründung des EuGH

Nach EU-Recht hat jeder EU-Bürger und jede natürliche und juristische Person mit Wohnsitz oder Sitz in einem EU-Mitgliedsstaat freien Zugang zu Rechtstexten, die der EU-Kommission unterliegen. Sollte die öffentliche Verbreitung des Textes jedoch geschäftliche Interessen inkl. geistigen Eigentums natürlicher oder juristischer Personen gefährden, kann der Zugang beschränkt werden. Diese Einschränkung wiederum könne jedoch bei überwiegendem öffentlichen Interesse an der Verbreitung aufgehoben werden.

Die Normen im vorliegenden Streitfall (EN 71-4, EN 71-5, EN 71-12 und EN 12472) seien als EU-Recht zu werten, da sie durch ihre Konformitätsvermutung Rechte und Pflichten Einzelner eindeutig bestimmten und somit Rechtswirkung hätten. Öffentliches Interesse bestehe, da die Kenntnis der HTN für Bürger notwendig sei, um zu bewerten, ob ein bestimmtes Produkt oder eine Dienstleistung den Anforderungen ihrer Rechtsvorschriften entsprechen.

In Anbetracht dieser Punkte sei die Verweigerung der Kommission nichtig. Der Aussage der Generalanwältin, dass Normen wegen ihrer wichtigen Rolle beim Befolgen von Unionsrecht generell nicht urheberrechtlich geschützt werden könnten, folgte das Gericht nicht.

Mögliche Folgen für EU-Normungssystem

Der VDI (Verein Deutscher Ingenieure) befürchtet, dass das Urteil einen Präzedenzfall schafft. Durch den Verkauf der Normen finanzieren Normungsorganisationen deren Entwicklung, die ein hohes Maß an Fachwissen von Experten aus Wirtschaft, Forschung und Regierung benötigt. Denn HTN bräuchten sowohl gegenseitige Anerkennung, um den transnationalen Austausch von Waren und Dienstleistungen gesetzeskonform zu ermöglichen, als auch die Flexibilität, um auf technische Weiterentwicklungen anwendbar zu sein.

Käme es zur vermehrten kostenlosen Veröffentlichung von HTN, könnte das Normungssystem, das in der EU seit den 1980er Jahren aufgebaut wurde, nicht mehr finanziert werden. Die heutige Qualität der HTN wäre aus Sicht des VDI nicht mehr sicher zu gewährleisten.

Reaktion von Normungsorganisationen auf Urteil

Die offiziellen europäischen Normungsorganisationen CEN und CENELEC sowie die darin vertretenen nationalen Normungsorganisationen, u. a. DIN und DKE, werten es positiv, dass das Urteil den Urheberrechtsschutz erhält. Dem Hauptargument der Generalanwältin und der Kläger, diesen auszuschließen, wurde nicht stattgegeben. Recht auf Vervielfältigung oder Nutzung von Norm-Dokumenten durch Dritte kann folglich weiterhin beschränkt werden. Im konkreten Streitfall käme es zur Veröffentlichung gemäß der Verordnung 1049/2001, da ein überwiegendes öffentliches Interesse bestände.

 

Weitere Artikel zum Thema

Rechtsstreit um frei zugängliche harmonisierte Normen

Seminar: Grundlagen der Normung

 

Links und Quellen

CURIA: Pressemitteilung Nr. 41/24: https://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2024-03/cp240041de.pdf, 08.03.2024

DIN.de: Der Europäische Gerichtshof stellt den urheberrechtlichen Schutz der harmonisierten Normen nicht in Frage – es besteht jedoch ein überwiegendes öffentliches Interesse an ihrer Veröffentlichung gemäß der Verordnung 1049/2001: https://www.din.de/de/din-und-seine-partner/presse/mitteilungen/der-europaeische-gerichtshof-stellt-den-urheberrechtlichen-schutz-der-harmonisierten-normen-nicht-in-frage-es-besteht-jedoch-ein-ueberwiegendes-oeffentliches-interesse-an-ihrer-veroeffentlichung-gemaess-der-verordnung-1049-2001-1042244, 08.03.2024

VDI Nachrichten: Malamud-Fall: EU-Normen müssen für Bürger der EU zugänglich sein: https://www.vdi-nachrichten.com/wirtschaft/recht/malamud-fall-eu-normen-muessen-fuer-buerger-der-eu-zugaenglich-sein/, 08.03.2024